Hörbericht "Gesellschaftsklimafragen"
Podcast der Online-Diskussion vom 14. April 2021
Wir leben in bewegten Zeiten. Wie steht es da um unser soziales Miteinander? Wie krisenfest sind Vielfalt und Inklusion? Beim Jour fixe zur Berliner Stifungswoche diskutierten Experten und Expertinnen diese "Gesellschaftsklimafragen" online im Live-Stream. Hören Sie einen Beitrag von Klaus Fechner. (reichweiten.net)
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Wir alle sind globalen Herausforderungen, Krisen und deren Folgen ausgesetzt: Klimawandel, Digitalisierung, Migrationsbewegungen und die Corona-Pandemie. Wie steht es um den Zusammenhalt in der Gesellschaft in diesen bewegten Zeiten? Welche Bedeutung hat dabei bürgerschaftliches Engagement? Und welche Folgen haben diese Entwicklungen für die Inklusion? Diesen Fragen ging die Fürst Donnersmarck-Stiftung am 14. April 2021 in einer Online-Diskussion im Rahmen der 12. Berliner Stiftungswoche nach.
Zu Beginn ging es darum, was gesellschaftlicher Zusammenhalt eigentlich ist. Anne Stöcker ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Für sie sind zwei Bereiche entscheidend:
Helfen, unterstützen, für andere da sein
Auf der Einstellungsebene kann man von einer positiven Einstellung, einem Sich-Verbunden-Fühlen mit einem Gemeinwesen ausgehen. Und dann aber auch, wenn die entsprechenden Handlungen darauf ausgerichtet sind. Also nicht, dass geistig etwas völlig anders ist als die eigenen Handlungen abbilden. Also positive Einstellungen, die auf ein Gemeinwesen bezogen sind und die sich auch an den Handlungen widerspiegeln lassen.
Also helfen, unterstützen, für andere da sein – zum Beispiel in der Nachbarschaft, innerhalb eines Vereins oder einer Selbsthilfegruppe. Viele dieser Tätigkeiten sind zurzeit wegen der Einschränkungen des Lockdowns nicht möglich. Das macht gesellschaftliches Engagement schwierig, wie Dr. Lilian Schwalb bemerkt. Die Geschäftsführerin des Bundesnetzwerkes Bürgerschaftliches Engagement – kurz BBE – erkennt eine weitere Entwicklung:
Eine bedrohliche Polarisierung der Gesellschaft
Gleichzeitig sehe ich mit Sorge, dass sich eine bedrohliche Polarisierung in der Gesellschaft auftut. Und dass sich viele Menschen unsolidarischer aufstellen und dass ungeschützter Dinge thematisiert werden, die vorher nicht öffentlich so gesagt worden wären. Ich denke, hier ist bürgerschaftliches Engagement und eine starke Stimme der Zivilgesellschaft ganz besonders wichtig. Aber die kann nicht nur in Krisenzeiten als wichtig erachtet werden. Das ist die Gefahr, dass wir sagen: Jetzt ist eine Krise, also her mit der Zivilgesellschaft. Besser ist es, für dauerhafte Stabilität zu sorgen.
Eine zunehmende Polarisierung, eine Spaltung beobachtet auch Domingos de Oliveira. Er ist Dozent und Berater für barrierefreies Internet. So würden besonders Menschen mit Behinderung eine größere Belastung erleben, weil das Zwischenmenschliche wegfällt. Gerade innerhalb des vergangenen Jahres mit den Erfahrungen der Corona-Krise sieht er einen Rückschritt für die Ziele der Inklusion:
Menschen mit Behinderung im Abseits?
Menschen mit Behinderung kommen in dem Diskurs kaum vor. Das sieht man auch gut an den Impfkampagnen. Da wird gar nicht darüber nachgedacht, kann man die Impfzentren oder die Anmeldung dazu barrierefrei gestalten. Oder: Gibt es nicht Menschen mit Behinderung, die besonders stark auf die Impfungen angewiesen sind, damit sie ihr Leben wieder aufnehmen können? Es gibt viele Menschen, die zu den Hochrisikogruppen gehören, aber kein Recht auf eine Impfung haben. Die sitzen teilweise seit einem Jahr zuhause. Und die Bezugspersonen sind dann auch isoliert, weil die sich natürlich ebenfalls nicht anstecken dürfen.
Für Anne Stöcker vom Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt sind gerade die negativen Erfahrungen gute Anlässe für bürgerschaftliches Engagement:
Gerade deshalb ist es so wichtig, nicht aufzuhören an Meinungsbildung mitzuwirken und sich einzubringen in die Diskurse und in die aktive Zivilgesellschaft. Für mich ist eine Lehre aus dem letzten Jahr, dass weltweite Kooperation zur Lösung umfassender Probleme möglich zu sein scheint. Mit wahnsinnig großer Kraftanstrengung, aber wir sind dran. Das ist ein ermutigendes Zeichen, was sich vielleicht auch für andere weltweite und gesellschaftliche Probleme anwenden ließe, wenn der Wille dazu da ist.
Verbesserte Teilhabe durch Technologie?
Positive Aspekte hat auch Domingos de Oliveira ausgemacht. Für ihn hat sich die Möglichkeit zur Teilhabe durch die technische Entwicklung und virtuelle Formate wie Online-Konferenzen verbessert. So kann er als Berater und Dozent mit einer Sehbehinderung jetzt viel mehr zuhause arbeiten und muss deutlich weniger beruflich bedingt herumreisen. Für ihn wird Teilhabe so einfacher. Auch das Thema Barrierefreiheit sieht er im vergangenen Jahr stärker in den Fokus gerückt:
Ich bin jetzt mal verhalten optimistisch, dass das Thema immer stärker an Bedeutung gewinnen wird. Einfach dadurch, dass der Druck der Menschen mit Behinderung zunimmt. Man hat ja die Kritik an dieser Luca-App mitbekommen, die nicht barrierefrei ist. Da ist der Druck auf jeden Fall da. Für den öffentlichen Sektor und den Non-Profit-Sektor ist das Thema Barrierefreiheit ganz wichtig. Gerade für die großen Verbände. Die sind ja ein riesiger Nachfragemarkt. Alleine dadurch wird der Druck auf Dienstleister steigen, das Thema Barrierefreiheit stärker zu berücksichtigen.
Für Lilian Schwalb vom BBE ist die technische Entwicklung nicht nur eine Möglichkeit, gesellschaftliche Teilhabe einfacher zu machen. Sie sieht darin auch eine Chance, dass Menschen mit Behinderung selbst aktiv werden können und in ihrem Engagement gestärkt werden:
Was wir erreichen möchten, und dafür arbeiten wir im BBE, ist, dass es verschiedene Formate gibt. Auch aufsuchende Formate, die es den unterschiedlichsten Zielgruppen ermöglicht, sich zu engagieren. Da sehe ich große Bedarfe in Vorhaben, die Menschen mit Behinderung betreffen. Hier gibt es einfach Barrieren. Also Barrieren, die es im Arbeitsleben gibt, die gibt es auch im bürgerschaftlichen Engagement. Für müssen für stärkere Barrierefreiheit, für bessere Zugangschancen und für größere Teilhabe kämpfen.
Daher fordert sie zum Beispiel eine gesetzliche Vorgabe für barrierefreie Kommunikation. Insgesamt zieht die Expertenrunde eine durchwachsene Bilanz des vergangenen Krisenjahres. Auf der einen Seite gibt es Tendenzen zu weniger gesellschaftlichem Zusammenhalt und Rückschritte bei der Inklusion. Auf der anderen Seite haben sich Chancen und neue Möglichkeiten für Teilhabe ergeben.
Der Weg aus der Krise beginnt für Domingos de Oliveira dort, wo Menschen aufhören nur auf sich selbst zu schauen:
Es fehlt so ein bisschen die Solidarität mit anderen Gruppen, die auch vor großen Herausforderungen stehen. Das würde ich mir wünschen, dass man den Fokus nicht nur auf die eigene Gruppe richtet oder auf die eigenen Bedürfnisse, sondern wirklich den Blick auch weitet und so ein bisschen mehr tut als klatschen, sondern sich für bessere Löhne, Ansehen und Arbeitsbedingungen einsetzt.