Hörbericht: Arm, behindert, obdachlos?
Podcast zur Diskussionsrunde am 12. September 2022
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Obdachlosigkeit und Behinderung? Die Fürst Donnersmarck-Stiftung beleuchtete dieses wenig bekannte Thema zusammen mit der Berliner Landeszentrale für politische Bildung am 12.9.2022 bei einer Podiumsdiskussion in deren Räumen. Hören Sie einen Beitrag von Klaus Fechner. (reichweiten.net)
Hörbericht herunterladen
Transkription zum Mitlesen
Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit stellen große Herausforderungen für unsere Gesellschaft dar. Wie verhält es sich in diesem Zusammenhang mit Menschen mit Behinderung? Inwiefern sie von Obdachlosigkeit betroffen sind und welche Rolle die Behinderung dabei spielt, darüber weiß man wenig. Die Fürst Donnersmarck-Stiftung beleuchtete in Kooperation mit der Berliner Landeszentrale für politische Bildung am 12. September 2022 dieses kaum bekannte Thema. In einer Diskussionsrunde wurde zu Beginn eine Bestandsaufnahme versucht. Dabei ist die Unterscheidung zwischen obdachlos und wohnungslos wichtig, wie Wenke Christoph beschreibt, sie ist Staatssekretärin der Senatsverwaltung für Integration und Soziales in Berlin.
Zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit unterscheiden
„Obdachlos sind Menschen, die tatsächlich auf der Straße leben, die gar keine Form von Wohnraum zur Verfügung haben, sondern z. B. unter der Brücke, im Zelt, im Park und so weiter campieren müssen. Wohnungslos sind dagegen viel mehr Menschen, z. B. „Couch-Surfer“. Also Menschen, die bei Freunden oder bei der Familie unterkommen. Zu den Wohnungslosen zählen aber auch Menschen, die in Unterkünften leben, in Geflüchteten-Unterkünften, in Wohnungslosen-Unterkünften, in Notübernachtungen. Also Menschen, die keinen eigenen Wohnraum haben.“
Die genaue Zahl der Betroffenen ist umstritten. Das Statistische Bundesamt nennt für Deutschland eine Zahl von knapp 180.000 Wohnungslosen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe geht von zirka 250.000 wohnungslosen Menschen und etwa 45.000 Obdachlosen aus. Die Anzahl der Menschen mit Behinderung an diesen Gruppen wird nicht gesondert erfasst. Hilfsorganisationen schätzen, dass das Risiko für Menschen mit Behinderung obdachlos zu werden steigt. Ursachen sind die allgemeine Wohnungsknappheit und steigende Mieten.
Wenke Christoph sieht ein typisches Muster, warum Menschen ihr Dach über dem Kopf verlieren: Kommt es zu Mietschulden und Zahlungsverzug, werde auf Post vom Vermieter nicht reagiert. Nach drei Monaten drohe die Kündigung der Wohnung. Erfahrungen, die Elisa Lindemann bestätigt. Sie leitet die Notübernachtung für Frauen „Marie“ in Berlin-Mitte.
„Wir haben nicht so viele Frauen, die ganz neu in die Situation der Wohnungslosigkeit kommen. Allerdings, bei denen es so ist, ist es tatsächlich so, dass die Post nicht geöffnet worden ist und dann plötzlich eine Räumung stattfand. Oder, was auch passiert ist: Der Mietvertrag läuft entweder auf einen Elternteil oder auf den Partner, der verstirbt und die Frau kann den Mietvertrag nicht übernehmen und verliert dann auch die Wohnung. Das kommt immer wieder vor.“
Die Notübernachtung „Marie“ bietet Frauen mit und ohne Behinderung die Möglichkeit der Übernachtung sowie praktische Hilfen und soziale Beratung. Elisa Lindemann beschreibt das Angebot der Einrichtung, die von der Koepjohann´schen Stiftung organisiert wird.
Die Betroffenen können anonym bleiben
Notübernachtung heißt, wir öffnen um 18 Uhr abends und in der Regel schließen die Notübernachtungen um 8 Uhr morgens. Wir haben das ein bisschen anders konzipiert und schließen dreimal die Woche erst um 12 Uhr. Einfach damit die Frauen auch die Chance haben, auszuschlafen und in Ruhe in den Tag zu starten. Wir sind konzipiert für zehn Frauen und haben zwei Schlafzimmer. Das heißt, fünf Frauen teilen sich ein Zimmer und ein Badezimmer. Und wir haben eine große Wohnküche. Wir sind eine barrierefreie Frauen-Notübernachtung. Das heißt, wir können auch Frauen aufnehmen, die Mobilitätseinschränkungen haben oder aufgrund von Erkrankungen z. B. auf einen Sitz in der Dusche angewiesen oder auf eine barrierefreie Toilette.
Die Frauen können anonym bleiben, es gibt keine Ausweiskontrollen.
Um Obdachlosigkeit langfristig zu bekämpfen, hat das Land Berlin das Projekt „Housing First“ ins Leben gerufen. Es geht darum, obdachlosen Menschen schnell und unbefristet eine Wohnung mit eigenem Mietvertrag zur Verfügung zu stellen. Staatssekretärin Wenke Christoph erläutert das Prinzip.
Die Wohnung ist der Anfang und wir unterstützen sozialarbeiterisch, psychologisch, was auch immer notwendig ist, dann in der eigenen Wohnung. Wir bauen damit das Hilfesystem von heute faktisch um. Heute musst du dich von den niedrigschwelligen Einrichtungen hocharbeiten, bis du mal zu einer Wohnung kommst und dann hört die Unterstützung auf. Wir wollen das umdrehen: ich habe einen Mietvertrag und ich habe eine Sicherheit. Das gibt vielen Menschen die Möglichkeit, wieder eine Stabilität zu erreichen. Gerade wenn ich psychisch angeschlagen bin. Aber die Sicherheit zu wissen, ich muss nicht in drei Wochen oder in sechs Monaten wieder raus aus dem jetzigen Kontext, sondern ich habe hier einen sicheren Wohnraum. Das hilft ganz vielen, wieder auf die Beine zu kommen.
„Housing First“ ist Teil der Umsetzung der Ziele des europäischen Masterplans zur Überwindung der Obdachlosigkeit. Bis 2030 soll es danach keine Obdachlosigkeit mehr in Berlin geben. Um die bisher mangelnde Vernetzung zwischen den Beteiligten zu verbessern, sollen alle an einen Tisch, so Wenke Christoph.
Uns ist es wichtig, die Wohnungslosenpolitik gemeinsam mit den Akteuren der Wohnungslosenhilfe, mit den Betroffenen und mit den anderen Verwaltungen zu machen, die daran beteiligt sind. Ende November, Anfang Dezember läuft die nächste Strategiekonferenz. Das läuft eine Woche durch, jeden Tag ein bis zwei Sessions. Wir werden uns viel um das Thema Wohnungslosigkeit und Wohnen kümmern. Auch um „Housing First“. Das ist ein offener Prozess, weil wir diese Mammutaufgabe, die der Masterplan uns vorgibt und die wir uns selber auch als Ziel stellen, erfüllen wollen. Wir wollen gemeinsam schauen, was geht und wie wir das machen können.
Eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Akteuren hält auch Elisa Lindemann von der Notübernachtung „Marie“ für notwendig. Sie betont aber noch einen anderen Aspekt.
Was ich auch wichtig finde, ist es, den Menschen mit Behinderung mehr Autonomie zuzugestehen. Das ist ja auch die Zielsetzung von eigenem Wohnraum, dass sie selber entscheiden, wie wollen sie ihr Leben gestalten und wieviel Unterstützung möchten sie in Anspruch nehmen. Oder zuzugestehen, dass sie es vielleicht nicht möchten. Ich glaube, das muss in der Gesellschaft noch viel mehr ein Thema sein, anzuerkennen, dass Menschen mit Behinderung wie jeder andere entscheiden können, wen sie in ihre Wohnung lassen oder wieviel Unterstützung sie wollen.
Außerdem ist ihr wichtig, dass möglichst viele neugebaute Wohnungen barrierefrei oder zumindest barrierearm gestaltet werden, denn nur wenn ausreichend barrierefreier Wohnraum vorhanden ist, lassen sich Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit für Menschen mit Behinderung erfolgreich bekämpfen.