Hörbericht: Behindertenhilfe und Fachkräftemangel
Podcast zur Diskussionsrunde am 19. April 2023
Wie gestaltet sich der Alltag unter personellem Fachkräftemangel? Welche Auswirkungen hat dies auf die Teilhabemöglichkeiten oder Rehabilitationschancen von Menschen mit Behinderung? Wie erleben Betroffene selbst die Situation und was würden Sie sich in Zukunft für eine Betreuung wünschen? Das wurde bei der Podiumsdiskussion am 19. April 2023 in der Villa Donnersmarck diskutiert. Hören Sie einen Beitrag von Klaus Fechner. (reichweiten.net)
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Mehr als eine halbe Millionen Fachkräfte fehlen in Deutschland, das geht aus Zahlen des Instituts der deutschen Wirtschaft hervor. Besonders betroffen sind Berufe im Bereich Betreuung, Rehabilitation und Pflege. Anlässlich der 14. Berliner Stiftungswoche zum Thema „Alles okay? Zwischen Dauerkrise und Zuversicht“ organisierte die Fürst Donnersmarck-Stiftung eine Diskussions-Veranstaltung über den Zustand der Behindertenhilfe in Zeiten des Fachkräftemangels.
Während die Situation in der Pflege inzwischen größere Aufmerksamkeit erhält, ist die Heilerziehungspflege dabei ein weitgehend unbeachtetes Berufsfeld, das aber für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung von großer Bedeutung ist. Am 19. April 2023 ging es in der Villa Donnersmarck um eine Zustandsbeschreibung und um mögliche Auswege aus der Krise.
Menschen unterstützen, Familien entlasten
In der Analyse waren sich alle Teilnehmer einig: Der Zustand ist äußerst kritisch. Zu wenige Mitarbeitende müssen sich um zu viele Klienten kümmern. Mit weitreichenden Folgen, wie Irit Kulzk beschreibt. Sie ist Geschäftsführerin des Vereins Zukunftssicherung Berlin, der unterschiedliche Wohnformen für Menschen mit geistiger Behinderung anbietet. Auch hier macht sich der Fachkräftemangel bemerkbar.
Es bleiben die Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf auf der Strecke. Auch wir bauen Plätze ab und schließen, anstatt aufzubauen. Dann kann ich die drei Fachkräfte woanders einsetzen. Da sind wir nicht der einzige Träger, der Plätze eher schließt als aufbaut. Ich finde, dass damit die Familien allein gelassen werden. Wir haben ganz viele Menschen, die Unterstützung brauchen und Familien, die entlastet werden müssen. Und wir haben keine Plätze. Vor allem nicht für den Personenkreis mit hohem Unterstützungsbedarf.
Floskeln kommen, wo Verständnis endet
Ausgebildete Fachkräfte verlassen den Beruf, zu wenige Schulabgänger interessieren sich für soziale Tätigkeiten und die Ausbildung zum Beispiel zum Heilerziehungspfleger ist nicht bundeseinheitlich geregelt. Für Lars Düsterhöft verbirgt sich dahinter ein generelles gesellschaftliches Problem. Der SPD-Politiker ist Sprecher für Soziales und Pflege sowie für Menschen mit Behinderungen im Berliner Abgeordnetenhaus. Nach seiner Erfahrung sind Menschen mit Behinderung und deren Anliegen in der Öffentlichkeit kaum sichtbar und auf politischer Ebene nur selten ein Thema.
Das zeigt für mich als Sprecher für Menschen mit Behinderung, dass die einzelnen Fachbereiche überhaupt nicht verstehen, wie wichtig es ist inklusiv zu denken. Und auch nicht begreifen, dass jeder von uns höchstwahrscheinlich in diese Situation kommt, sondern Menschen mit Behinderung als Randgruppen gesehen werden. Und wir werden auf dem Papier gerne wahrgenommen, aber ich glaube, dass es in den einzelnen Senatsverwaltungen, in einzelnen Bezirksämtern hapert. Und ich sehe es bei mir im Abgeordnetenhaus, dass das Verständnis relativ schnell endet und nur Floskeln kommen.
Sichtbarkeit hängt zusammen
Es besteht ein Zusammenhang zwischen diesem geringen gesellschaftlichen und politischen Stellenwert und der Bekanntheit bestimmter Berufe, wie zum Beispiel dem des Heilerziehungspflegers, was wiederum den Fachkräftemangel unterstützt. Davon geht die Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Dr. Ursula Schoen, aus.
Wenn Menschen mit Behinderung nicht sichtbar sind im Leben und auch als sozialpolitisches Thema, dann ist auch der Beruf der Heilerziehungspflege, der damit zusammenhängt, nicht bekannt, weil das eine mit dem anderen zusammenhängt. Da versuchen wir gerade als Diakonie durch das Freiwillige Soziale Jahr und andere Projekte zu sagen, wir bringen junge Menschen in Kontakt mit diesem Thema und ermutigen sie, in diese Berufsrichtung zu gehen. Da würde ich direkt einen Appell an die Berliner Politik richten, tun sie alles, damit das Soziale Jahr vernünftig finanziert ist.
FSJ und Berufsmessen
Die ausreichende Finanzierung des Freiwilligen Sozialen Jahres und bestehender Projekte ist nur eine Idee, um die Situation zu verbessern. Auch die Einrichtungen selbst müssen sich Maßnahmen einfallen lassen, um junge Menschen für Pflegeberufe zu interessieren. Davon ist Irit Kulzk überzeugt. Für sie ist klar, die Schüler von heute sind die Fachkräfte von morgen:
Was wir als Zukunftssicherung getan haben, da haben Kollegen geschaut, welche Schulen sind in der Nähe. Und die Schulen haben teilweise, so und so viel Stunden muss man was Soziales machen. Und da in Kontakt gehen und den Bereich vorstellen. Sodass die Kollegen dafür erwärmen, dass es eine gute Idee ist, wenn einmal die Woche ein junger Mensch für ein paar Stunden kommt. Aber das kostet Zeit und Geld. Es kostet die Kollegen, die das begleiten und es kostet die Kollegen, die die Werbung machen und und und. Man muss in den Schulen anfangen, davon bin ich überzeugt. Ich habe das tatsächlich erst in zwei Schulen erlebt, dass die Kinder über ein ganzes Schuljahr einmal die Woche für zwei, drei Stunden etwas Soziales tun müssen in der zehnten Klasse. Das fand ich total gut, weil sie Beziehungen aufbauen können. Das wäre so ein kleiner Anfang.
Darüber hinaus könnten Berufsmessen, die auf soziale und Pflegeberufe spezialisiert sind, Schulabgänger informieren und im besten Fall sogar Begeisterung wecken. Lars Düsterhöft kennt gelungene Beispiele in Berlin:
Wir haben zwei tolle Projekte, die sind nur in zwei Bezirken aktiv, aber die machen so tolle Berufsmessen. Die habe ich mir im letzten Jahr angeschaut. Da wird jede Klasse durchgeschleust und die gehen von Stand zu Stand und immer wird ihnen erzählt, was dort für tolle Arbeit gemacht wird. Wirklich mit leuchtenden Augen stehen dort die Leute hinter dem Stand aber die Schülerinnen und Schüler haben am Ende auch leuchtende Augen. Das machen wir in zwei Bezirken aber warum machen wir das nicht allen zwölf Bezirken?
Also mehr Information und mehr Werbung bei jungen Menschen als weitere Möglichkeit gegen den Fachkräftemangel anzugehen. Aber auch die Situation der aktuell Beschäftigten müsste sich verbessern, um ein Abwandern von Fachkräften zu verhindern. Darauf wiesen mehrere Beiträge aus dem Publikum hin. Als mögliche Maßnahmen wurden dabei weniger befristete Arbeitsverträge, eine bessere Verteilung von Schichtdiensten und eine bessere Bezahlung genannt.
Das Image der Pflegeberufe verbessern
Für Dr. Ursula Schoen liegt eine große Chance zur Bekämpfung des Fachkräftemangels in der Migration. Dazu gehört aus ihrer Sicht aber auch mehr Flexibilität, was die Anerkennung ausländischer Abschlüsse angeht:
Wir haben zum Beispiel das große Thema, dass viele Russland-Deutsche wieder zurückgegangen sind, weil sie sich in Deutschland abgewertet fühlten mit ihren Schulausbildungen und Hochschulabschlüssen. Wir müssen in unserem gesamten Bildungsmarkt nicht immer nur von der deutschen Fachkraft her denken, die einen bestimmten Standard hat, sondern sagen, wie sichern wir Fachlichkeit und wie werden wir in diesem Bereich flexibler. Ich finde, wir müssen unsere Bildungssysteme, die ein ganz hoher Wert sind, anders organisieren, dass sie besser zum Leben der Menschen passen.
Ihr Ansatz lautet, weniger vom System auszugehen, als vielmehr von den Bedürfnissen der Menschen her zu denken.
Außerdem wäre es gut, so der Tenor am Ende der Veranstaltung, das Image der unterstützenden und Pflegeberufe zu verbessern. Dafür müsste in der Öffentlichkeit stärker gezeigt werden, dass Pflege ein Berufsfeld ist, das gesellschaftlich wertvoll ist und Spaß macht. Das könnten ebenso eine Daily Soap im Fernsehen wie große Demonstrationen oder das persönliche Werben im privaten Umfeld sein.
Doch ganz egal, welche Maßnahmen man ergreift, wird der Fachkräftemangel in der Behindertenhilfe kurzfristig eine große Herausforderung bleiben und die Arbeit der unterschiedlichen Organisationen auf diesem Feld stark beeinflussen.