Hörbericht: Denkstile - Bilder von Behinderung Religion
Hörbericht zur Diskussionsrunde am 25.10.2023
Wie wir Menschen mit Behinderung beurteilen, hängt davon ab, wie wir als Gesellschaft gewohnt sind sie zu sehen. Dabei existieren die unterschiedlichsten Bilder und Sichtweisen, viele sind von religiösen Vorstellungen geprägt. Mit dem Fokus Religion diskutierte die Fürst Donnersmarck-Stiftung in Kooperation mit der Berliner Landeszentrale für politische Bildung gemeinsam mit Podium und Publikum am 25.10.2023 im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Denkstile – Bilder von Behinderung". Hören Sie einen Beitrag von Klaus Fechner.
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Behinderung und Religion: Ein Spannungsfeld, das Fragen aufwirft. Wie wird das Bild von Menschen mit Behinderung von religiösen Vorstellungen geprägt? Und welche Perspektive haben die großen Weltreligionen auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung? Diesen Fragen ging die Fürst Donnersmarck-Stiftung gemeinsam mit der Berliner Landeszentrale für politische Bildung am 25. Oktober 2023 nach. Zum zweiten Abend der Reihe „Denkstile – Bilder von Behinderung“ trafen sich Historiker und Vertreter der drei großen Religionen, die die europäische Kultur am stärksten beeinflusst haben, in der Villa Donnersmarck.
Die evangelische Pfarrerin Nora Rämer beschreibt zu Beginn der Diskussion verschiedene Heilungsgeschichten der Bibel, in denen Blinde wieder sehen oder Lahme wieder laufen können. Aus ihrer Sicht zeigt die Bibel: Menschen mit Behinderung sollten gleichberechtigt behandelt werden.
Wenn Gelähmte Laufen lernen oder Menschen, die besessen sind, von Christus geheilt werden, sind das Geschichten auf Augenhöhe. Oft werden die Menschen gefragt: „Was willst du, das ich dir tue, was brauchst du?“ Da kommt keine mitleidige Hand, die denjenigen am Rollstuhl packt und dort hinführt, wo er nicht hinwill. Und ansonsten werden sie gar nicht besonders betont. Sie sind einfach Teil der Gruppen, die sich gruppieren. Sie gehören dazu. Wenn sie exkludiert worden sind, dann sind es die Gesellschaftsformen, die sie exkludiert haben. Vom Ansatz ist gedacht, ihr gehört dazu.
Dieses Dazugehören ist auch im Judentum und im Islam verankert. Dort finden sich in religiösen Schriften die Gedanken „Du bist gleichwertig“ und „Alle sitzen am selben Tisch“. Diese ursprünglich angelegte Teilhabe scheitert aber häufig schon an praktischen Gegebenheiten. Zum Beispiel, wenn es um den barrierefreien Zugang zu Gottesdiensten geht. Sigmount Königsberg ist Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde Berlin. Er benennt selbstkritisch die aktuelle Situation:
Es gibt Räumlichkeiten, es gibt Synagogen, die sind für alle zugänglich. Aber es gibt auch welche, die sind es nicht. Zwei Stufen reichen aus, um zu einem unüberwindlichen Hindernis zu werden. Von Orientierungshilfen in Brailleschrift oder Gebetsbüchern in Brailleschrift, was es in den USA meines Wissens gibt, sind wir hier noch entfernt. Oder auch technische Hilfsmittel wie Schleifen für Hörgeräte, Induktionsschleifen, oder auch, dass Gottesdienste in Gebärdensprache übertragen werden. Also, da sind wir noch weit weg. Da ist wirklich noch Luft nach oben.
In christlichen Kirchen und islamischen Moscheen sieht es ähnlich aus. Außerdem sind viele traditionelle Denkmuster, nach denen Behinderung als Last, als Schuld oder als Strafe Gottes angesehen wird, noch vorhanden. Auch zeigen künstlerische Darstellungen religiöser Themen kaum Bilder, die für Vielfalt und Inklusion stehen. Ein gutes Beispiel dafür sind im Christentum die Darstellungen des Abendmahles, auf denen in der Regel zwölf weiße Männer zu sehen sind.
Um mehr Verständnis für Diversität und die Belange von Menschen mit Behinderung im Zusammenhang mit Religion zu erlangen, schlägt Yildiz Akgün einen intensiven Austausch zwischen den Kirchen vor. Sie leitet die Kontakt- und Beratungsstelle des Vereins MINA – Leben in Vielfalt, der Menschen mit Migrationserfahrung und Behinderung berät. Yildiz Akgün beschreibt, wie MINA diesen Austausch vorantreibt. Zum Beispiel haben Sie Fachleute zu Gesprächen einladen und
… dass wir eine Moschee besucht haben und einen Imam, der uns über den Koran und die Einstellung zum Thema Behinderung berichtet hat. Dann waren wir in einer Synagoge. Da hat ein Rabbiner zu uns gesprochen und hat aus der Thora berichtet. Dann waren wir in einer Kirche, um über das Christentum zu hören. Aber wir waren auch bei einem Hinduismus-Tempel und haben uns deren Bild angehört.
Für mehr als den Austausch zwischen den Religionen plädiert der Historiker Prof. Hans-Walter Schmuhl von der Uni Bielefeld. Er blickt auf die sozialen Dienste der beiden christlichen Kirchen, auf Diakonie und Caritas. Aus seiner Sicht haben sich beide Organisationen lange Jahre intensiv mit praktischen und sozialen Fragen beschäftigt und dabei ihren religiösen Hintergrund vernachlässigt. Hans-Walter Schmuhl erkennt aber auch eine zuletzt verstärkte Beschäftigung der Einrichtungen mit den christlichen Werten und fordert einen Diskurs mit der Gesellschaft.
Man sieht in vielen Einrichtungen der Diakonie und, ich glaube, auch der Caritas, da gibt es sehr tiefgehende Leitbildprozesse und Ähnliches. Da fragt man, was ist eigentlich unser Markenkern, was andere Träger, die soziale Dienstleistungen anbieten, nicht haben? Das sollte auch in den gesellschaftlichen Diskurs eingebracht werden, denn etwas wie der theologische Gedanke der Gott-Ebenbildlichkeit, das ist etwas wie ein Anker, an dem man auch politische Forderungen wie Inklusion und Teilhabe festmachen kann. Ich plädiere immer dafür, dass Kirche, Diakonie und Caritas mehr wagen, theologisch zu denken. Nicht nur praktisch und sozial und das auch offensiv in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Das fehlt meines Erachtens.
So könnten Religionsgemeinschaften Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse ausüben.
In der Publikumsdiskussion wurden Zweifel geäußert, ob Institutionen wie Heime oder Werkstätten, die unter anderem von der Diakonie und der Caritas betrieben werden, den Wunsch nach Teilhabe wirklich fördern. Impulse für Veränderungen würden vielmehr aus der Behindertenbewegung selbst kommen. Für Nora Rämer ist das kein Widerspruch, im Gegenteil:
Wenn Impulse aus der Behindertenbewegung kommen, also auch aus der Selbsthilfe, dann ist das in meinem Verständnis ganz klar, dass man sich an die Seite stellt. Wenn Kirchengemeinden oder Moscheegemeinden oder Synagogen ein Teil der Gesellschaft sein wollen, dann ist es kein Leben, das wir hinter unseren Türen leben können. Dann müssen wir rausgehen, gemeinsam mit all denen, die da leben, die Dinge entwickeln. Also, wo wir Kirchengemeinden, andere Träger, Diakonie mit dem Bezirk gemeinsam in gesellschaftlicher Verantwortung stehen, Dinge neu zu denken und umzusetzen und damit Räume zu schaffen. Ich glaube, gemeinsam ist man doch viel stärker, als wenn jeder alleine auf seinem Weg kämpft.