„Teilhabe von Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen“

Das Praxiskolloquium „Teilhabe von Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen“ hatte zum Ziel, Betroffene, Fachkräfte aus den Bereichen Rehabilitation und Versorgung sowie Vertreter von Leistungserbringern und Leistungsträgern den gemeinsamen Austausch zu ermöglichen und zentrale Fragen miteinander zu diskutieren.
Der Keynote-Vortrag von Prof. Dr. Friedrich Dieckmann
Mit Prof. Dr. Friedrich Dieckmann (Professur für Sozialwesen an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen; Vorsitzender des Aktionsbündnis Teilhabeforschung e.V.) wurde ein Experte für den richtungsweisenden Impuls des Tages gewonnen. Der Vortrag (Teilhabe im Spannungsfeld individueller Selbstbestimmung und sozialrechtlicher Rahmenbedingungen) umriss, welche Herausforderungen zwischen dem politischen Ziel, eine selbstbestimmte Teilhabe in einem inklusiven Gemeinwesen zu ermöglichen, und dem grundlegenden Umbau der Eingliederungshilfe, der diesen Prozess umsetzt, bestehen. Spannungen entstehen, da viele Beteiligte an etablierten Strukturen festhalten und noch keine ausgereiften Lösungen existieren. Zudem stehen unterschiedliche Anforderungen an die Gestaltung der Unterstützung teilweise in Konflikt miteinander. Ziel des Impulses war es, diese Spannungsfelder sichtbar zu machen und eine Orientierungshilfe für den Veränderungsprozess zu bieten.
Prof. Dieckmann ist in seinem Vortrag auf die Teilhabe und die Selbstbestimmung als zentrale Ziele für die Unterstützung von Menschen mit Behinderung eingegangen. Darauf aufbauend wurde der sozialrechtliche Rahmen erläutert, der die gesetzlichen Grundlagen und strukturellen Voraussetzungen für die Umsetzung der Teilhabeansprüche beschrieb. Konkret wurde die individuelle Teilhabeplanung in den Blick genommen, die darauf abzielt, passgenaue Unterstützungsmaßnahmen zu beschreiben und umzusetzen. Anschließend ist Prof. Diekmann auf die Strukturen in den Organisationen der Eingliederungshilfe eingegangen. Hier hat er insbesondere die Anpassungen und die Innovationen in den Blick genommen, die notwendig sind, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden. Ein spezifischer Fokus lag auf dem Bereich Teilhabe und Pflege, da hier besondere Herausforderungen an der Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe und pflegerischer Versorgung entstehen.
Exemplarisch wird im Folgenden auf die Aspekte Teilhabe und Selbstbestimmung eingegangen. Selbstbestimmung bedeutet, zwischen verschiedenen Alternativen entsprechend den eigenen Präferenzen eine Wahl zu treffen und diese Entscheidung auch umsetzen zu können. Dies geht mit der Erfahrung von Selbstwirksamkeit einher. Voraussetzung dafür ist das Vorhandensein von Alternativen – ohne Wahlmöglichkeiten kann keine echte Selbstbestimmung stattfinden. Die Umsetzung des eigenen Willens stärkt zudem das Gefühl der Selbstwirksamkeit und damit das Vertrauen in die eigene Gestaltungsfähigkeit. Herr Dieckmann betonte in seinen Ausführungen, dass Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit nicht zwingend an Selbständigkeit gekoppelt sind. Auch Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, können selbstbestimmt handeln. Dennoch kann Selbständigkeit die Selbstbestimmung und das Erleben von Selbstwirksamkeit fördern. Dabei betrifft Selbstbestimmung sowohl grundlegende Lebensentscheidungen – etwa die Wahl des Berufs, des Wohnorts oder der Partnerschaft – als auch alltägliche Entscheidungen. Menschen mit Behinderung erleben jedoch häufig eine Einschränkung ihrer Selbstbestimmung, die sich meist auf kleinere Alltagsentscheidungen beschränkt.
Die Unterstützung der Selbstbestimmung bedeutet, den gesamten Teilhabe-Prozess zu begleiten – von der Bereitstellung und Wahrnehmung von Alternativen über die Willensbildung und Entscheidungsfindung bis hin zur Umsetzung. Dieser Prozess wird unter den Begriffen Selbstermächtigung und Empowerment zusammengefasst. Selbstbestimmung entsteht dabei nicht isoliert, sondern in einem dialogischen und gemeinschaftlichen Prozess. Unterstützende Personen sind dabei nicht nur eine Hilfe bei der Entscheidungsfindung, sondern auch aktive Dialogpartner.
Die Fragen „Wo, wie und mit wem wollen Sie wohnen?“, „Was und wo wollen Sie arbeiten?“ oder „Welche Beziehungen möchten Sie pflegen?“ sind zutiefst persönliche und intime Fragen. Viele Menschen setzen sich selten bewusst mit ihnen auseinander und haben oft keine klaren Antworten darauf. In der Regel werden solche Themen nur mit ausgewählten Vertrauenspersonen besprochen. Menschen mit Behinderung hingegen müssen sich häufig im Rahmen einer Bedarfsfeststellung mit einer Vertrauensperson und einer fremden, behördlichen Ansprechperson diesen Fragen stellen. Dabei sind sie gezwungen, ihre Wünsche, Gedanken und Sehnsüchte offen darzulegen, um eine Chance zu bekommen, ihre Vorstellungen umzusetzen. Basierend auf diesem Aspekt zeigte Herr Dieckmann deutlich wie herausfordernd die Realisierung von Teilhabe.
Als Fazit des vielschichtigen Vortrages wurden drei Punkte herausgestellt:
- Spannungsfelder in der Unterstützung von Teilhabe entstehen durch den Umbau der Eingliederungshilfe, durch widersprüchliche Interessen der beteiligten Akteure sowie durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie Personalmangel.
- Machtverhältnisse und unterschiedliche Denkweisen von Individuen, Organisationen sowie den Strukturen von Politik, Recht und Verwaltung verstärken diese Spannungen.
- In der Vergangenheit führte dies häufig zu einer Entwertung und Fremdbestimmung der Lebenswelt von Menschen mit Behinderung. Dennoch existieren erprobte Konzepte für unterstützende Beziehungen, Organisations- und Teamstrukturen sowie partizipative Organisationskulturen, die die Lebenswelt von Menschen mit Behinderung respektieren.
Diese Ansätze können eine Orientierung für zukünftige Entwicklungen sein und Selbstbestimmung und Teilhabe sowie einen individuellen Lebensstil von Menschen mit hohen Unterstützungsbedarf ermöglichen.
Nach dem spannenden Keynote-Vortrag von Prof. Dieckmann kamen Betroffene selbst zu Wort. Dank der Unterstützung durch Daniel Schleher haben drei Betroffene, die aktuell oder in der Vergangenheit im P.A.N. Zentrum als Rehabilitand oder Rehabilitandin begleitet wurden, in Form eines Videobeitrages berichtet, wie sie Teilhabe erleben, was ihnen wichtig ist und was Schwierigkeiten im Alltag sind. Der kurze Beitrag hat breite Zustimmung erzeugt. Es wurden viele alltägliche Situationen angesprochen, die es Menschen erschweren ihre Wünsche selbstbestimmt umzusetzen und gleichberechtigt teilzuhaben. Es wurde deutlich, dass es z.B. mehr Raum geben sollte, Dinge auszuprobieren.
Prspektive der Leistungserbringer
Der Impuls von Johannes Brühl (Leitung des neuen Bereichs Teilhabe – Assistenz – Pflege (TAP) in der Fürst Donnersmarck-Stiftung zu Berlin (FDST)) umriss die Leitlinien der pädagogischen Arbeit in der Behindertenhilfe und verwies hier auf die UN-Behindertenrechtskonvention und das Bundesteilhabegesetz (BTHG). Er gab darüber hinaus einen Einblick in die intensive Ziel- und Strategiediskussionen über die Zukunft der stationären Rehabilitations- und Wohnangebote in den letzten 20 Jahren in der FDST, die am ersten September 2024 in die Neugründung des Bereichs TAP mündete. Ziel des Bereiches ist es, Wohn- und Unterstützungsangebote zu schaffen, die eine selbstbestimmten Lebensführung von Menschen mit erworbenen Behinderungen ermöglichen und sowohl Pflegeleistungen als auch Teilhabeleistungen umfassen.
Die Zielgruppe umfasst Menschen mit einer erworbenen Hirnschädigung, die einen hohen Unterstützungsbedarf haben, auch während der Nacht. Aktuell werden verschiedene Leistungen angeboten, darunter Assistenzleistungen zur Teilhabe nach SGB IX, Behandlungspflege nach SGB V sowie Pflegeleistungen gemäß SGB XI und SGB XII. Allerdings führt die parallele Zuständigkeit verschiedener Sozialgesetzbücher zu Herausforderungen bei der Leistungszuordnung und an den Schnittstellen der unterschiedlichen Leistungsträger.
Das Ziel der Angebote für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen ist die bestmögliche Verzahnung von pflegerischer Versorgung und pädagogischer Betreuung, um eine umfassende Teilhabe zu ermöglichen. Tagsüber gewährleisten Mitarbeitende eine situationsabhängige pflegerische Assistenz sowie eine pädagogische Begleitung, um die bestmögliche Unterstützung für die Betroffenen sicherzustellen. Dabei soll der personenzentrierte Ansatz der Eingliederungshilfe und Pflege „wie aus einer Hand“ umgesetzt werden, indem eine praxistaugliche Struktur für Leistungen und Vergütungen entwickelt wird. Die Umsetzung stellt jedoch eine komplexe Anforderung im Alltag dar, da unterschiedliche und teilweise widersprüchliche Zielsetzungen miteinander in Einklang gebracht werden müssen.
Wichtige Themen für die Pädagogische Arbeit zur Sicherung von Teilhabe im Alltag sind die Herausforderungen im Teilhabeprozess, darunter die Schnittstellenproblematik zwischen Pflege- und Eingliederungshilfe, die Schwierigkeit der Bedarfsermittlung sowie die fehlende Spezialisierung des Systems auf neurologische Erkrankungen. Es wurde betont, dass eine personenzentrierte Betreuung und eine enge Zusammenarbeit aller Akteure erforderlich ist. Johannes Brühl zog das Fazit, dass es für gleichberechtigte Teilhabe im Alltag notwendig ist individuellen Unterstützungsangebote zu machen statt in einrichtungsbezogene Strukturen zu verbleiben.
Perspektive der Leistungsträger
Der Impuls von Marje Mülder, Leiterin der Sozialverwaltung im Bezirk Oberpfalz, machte in einem freien Vortrag bildlich sehr deutlich, mit welcher Perspektive die Eingliederungshilfe Teilhabeplanverfahren umsetzt und ihre eigene Rolle wahrnimmt und im Idealfall ausfüllen kann. Ausgehend von dem Beispiel “Besuch eines Fußballspiels im Stadium“ wurde wunderbar deutlich, wie Teilhabe aus Eingliederungsperspektive unterschiedlich aufgegriffen und finanziert wird. Antragsteller A wohnt neben dem Stadium und kann begleitet durch die Ehepartnerin regelmäßig Spiele besuchen, Antragstellerin B wohnt weiter entfernt, hat niemanden im privaten Netzwerk der als Begleitung in Frage kommt. Hier zeigt sich, wie unterschiedlich die Finanzierungsbedarfe aussehen können bei gleichen Teilhabezielen. Auch konnte Frau Mülder skizzieren, warum private Fragen nach Vorhandensein von Beziehungen oder der Qualität von bestehenden Beziehungen aus Perspektive des Amts an dieser Stelle relevant ist. So kann Assistenzbedarf bei Antragsteller A auch bestehen, wenn die Partnerin nicht bereit ist, ihren Ehepartner ins Stadium zu begleiten. Die Möglichkeit jemand in direkter Verantwortung zu befragen und in gemeinsame Diskussion zu gehen, wurde vom Publikum gerne genutzt. Es zeigte sich deutlich, dass die Perspektive des Leistungsträgers und die Möglichkeit, sich auszutauschen, die einseitige Wahrnehmung des Amtes als Gegenspieler in der Umsetzung von Teilhabe verhindern.
Ergebnisse der Workshop-Gruppen
Der Nachmittag begann mit einer Workshop-Phase, in der drei Gruppen jeweils drei gleiche Fragen miteinander bearbeiteten. Die zufällige Gruppenaufteilung hat gut funktioniert: Betroffene, Mitarbeitende von Leistungserbringern und Leistungsträgern haben an einem Tisch gesessen. Zur Frage „Wie erlebe ich die Umsetzung von Teilhabe als Betroffene/r?“ wurde u.a. besprochen wie wichtig zuverlässige Mobilität in Form eines Führerscheines oder des öffentlichen Nahverkehrs ist. Auch die Bedeutung von Sozialverbänden und Selbsthilfegruppen wurde betont, um sich gegenseitig zu stärken oder beim „Behördenwust“ zu unterstützen. Es wurde aber auch deutlich gemacht, dass die Umsetzung von Teilhabe von Betroffenen als herausfordernd erlebt wird. Besonders die fehlende Akzeptanz in der Gesellschaft, Unsicherheiten im Umgang mit Menschen mit Behinderungen und unzureichende Aufklärung darüber was ein Leben mit Einschränkungen bedeutet, erschweren Teilhabe. Dennoch gibt es positive Ansätze, die es ermöglichen selbstbestimmt teilzunehmen und Inklusion aktiv mitzugestalten.
Außerdem wurde aus Mitarbeitenden-Sicht die Frage „Wie verstehen wir unsere Aufgabe und wie setzen wir diese um?“ diskutiert. In den Gruppen zeigte sich, dass Aufgaben zur Förderung von Teilhabe vielfältig sind und unterschiedlich verstanden werden. Als wichtige Maßnahmen wurden, das Initiieren von Selbsthilfegruppen, die Einbindung von Angehörigen und die Bereitstellung von Schulungen für Fachkräfte herausgestellt. Zudem sind eine gute Vorbereitung auf die Bedarfsermittlungsgespräche, Biografie-Arbeit und das Wissen über Unterstützungsstrategien und die Möglichkeiten im Sozialraum wichtig. Eine Herausforderung ist für Mitarbeitende der Umgang mit dem Wunsch von Personen nicht teilzunehmen, oder der Umgang mit einer Depression, was sich auf Teilhabewünsche auswirkt. Neben diesen konkreten Aufgaben wurde auch herausgearbeitet, dass eine unterstützende Haltung, Zuhören, Augenhöhe herstellen, Motivieren und Ermutigen zentrale Strategien sind, die Teilhabe fördern.
Zur dritten Frage „Was sind unsere Erfahrungen in der Sicherung von Teilhabe?“ wurden verschiedene Herausforderungen und Lösungsansätze in den Gruppen diskutiert. Kritisch werden die oft unklaren Zuständigkeiten auf Behördenseite erlebt oder die Ablehnung durch Krankenkassen – hier können Anlaufstellen wie die EUTB (Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung) unterstützen. Weitere Lösungsansätze wurden im Austausch mit Partnern im Sozialraum gesehen, der Nutzung von Einzelfallhilfen sowie Schulungen und Fortbildungen für Fachkräften. Trotz der bestehenden Barrieren und Einschränkungen nehmen die Teilnehmenden einen positiven Zeitgeist war und kennen viele Einzelbeispiele, die zeigen, dass Veränderung möglich ist. Sichtbarkeit, Partizipation und politische Mitgestaltung wurden als zentrale Hebel für mehr Inklusion betrachtet. Generell wurde vor allem von Seiten der Betroffenen betont, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Sicherung von Teilhabe per se bereits jetzt sehr gut sind, deren Umsetzung jedoch unzureichend ist. So äußerte eine Person „Wenn die Welt so wäre wie im Gesetz beschrieben, wäre alles prima“.
Fazit zur Veranstaltung
Alle Beteiligten stimmten am Ende des Nachmittags zu, dass der Austausch über Berufsgruppen hinweg gemeinsam mit Betroffenen einen Dialog eröffnen kann, der Verständnis für die unterschiedlichen Perspektiven, Erwartungen und Erfahrungen fördert. Die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen ist möglich, wenn wir gemeinsam die Bedarfe und Herausforderungen in den Blick nehmen und individuelle Unterstützungsstrukturen in der Zukunft ermöglichen.
Text: Dr. Maja Wiest; Annette Sterr, PhD; PD Dr. med. Christian Dohle.